Featured

 

Marine CharbonneauIMG 1423

 

Rede Marine Charbonneau, Mahnmal für die Opfer des Todesmarsches, 4. Mai 2024

 

"acht Monate Freiwilligendienst haben meine Perspektive verändert. Von nun an ist mein Blick auf die Zukunft gerichtet, auf die zukünftigen Generationen. Geschichtsunterricht allein reicht nicht"

 

Guten Abend. Ich danke Ihnen, dass Sie heute alle hierher zum Mahnmal für die Opfer des Todesmarsches gekommen sind. Mein Name ist Marine Charbonneau, ich komme aus Frankreich und bin für ein Jahr als Freiwillige von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste an der Evangelischen Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau.

Als ich im September 2023 hier ankam, hatte ich bereits ein gutes Wissen über die Geschichte des Nationalsozialismus und der deutschen Besatzung meiner Heimat. Aber acht Monate Freiwilligendienst haben meine Perspektive verändert. Von nun an ist mein Blick auf die Zukunft gerichtet, auf die zukünftigen Generationen. Geschichtsunterricht allein reicht nicht Gedächnisbuchprojekt für die Häftlinge des Konzentrationslagers Dachau wurde mir diese Notwendigkeit, jungen Menschen mehr als nur historische Fakten zu vermitteln, erst richtig aus, um die Ereignisse zu verstehen; man muss sie mit der Gegenwart und der Zukunft verbinden, um zu verhindern, dass sich die gleichen Gräueltaten, in welcher Form auch immer, wiederholen.

 

Die Worte "Nie wieder" hallen in unserer zerbrechlichen Welt mit erhöhter Kraft wider. Doch damit dieser Vorsatz auch umgesetzt werden kann, ist es entscheidend, zunächst die Vergangenheit unserer Vorfahren zu verstehen. Durch meine Teilnahme am bewusst: die Geschichte derer, die überlebten, und derer, die in den Konzentrationslagern ermordet wurden oder bei den Todesmärschen ab dem 26. April 1945. Mehr als 10.000 von ihnen mussten auf diese Todesmärsche und ihre Zeugnisse sind wertvolle Lehren, die uns aufklären und uns die lauernden Gefahren bewusst machen. Mein besonderer Dank gilt Ihnen, lieber Herr Abba Naor, dass Sie als Überlebender des Todesmarsches nachher zu uns sprechen.

Die Biografie eines französischen Dachau-Häftlings, Jean-René Lafond, hat mich besonders beeindruckt. Als Freiwillige hatte ich die Möglichkeit, seine Geschichte aus nächster Nähe zu studieren. Als Überlebender des Lagers erlebte er die Befreiung im April 1945. Jedes Jahr bis zu seinem Tod organisierte er eine Gedenkfeier für seine Kamaraden in der Résistance aus der Region Gironde. Warum? Um sie nicht zu vergessen, aber auch, um die neuen Generationen zu sensibilisieren, damit sie nicht zulassen, dass sich solche Massaker wiederholen. Sein Vorgehen war von einem tiefen Wunsch geprägt, das kollektive Gedächtnis zu bewahren und den Frieden zu fördern, genau wie wir es heute an dieser Gedenkstätte des Todesmarsches immer noch tun.

Am Mahnmal Todesmarches1388

Bevor ich hierher nach Dachau gekommen bin, habe ich darüber nachgedacht, wie ich meinen eigenen Beitrag zur Erinnerung an die Vergangenheit leisten kann, die uns allen wichtig ist. Wie kann ich mich dafür einsetzen, dass Menschenrechtsverletzungen und Gräueltaten in Zukunft verhindert werden? Was sind die aktuellen Herausforderungen und wie können wir auf sie reagieren, indem wir aus der Vergangenheit lernen? Wie können wir einen zerbrechlichen Frieden stärken und über die bloßen Lehren über den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland, den Widerstand, die deutsche Besatzungsherrschaft oder die Kollaboration, die ich in der Schule und an der Universität so oft durchgenommen habe, hinausgehen?

Durch das Eintauchen in die persönlichen Berichte der Häftlinge des Konzentrationslagers Dachau sowie in die Aussagen von Häftlingen, die gezwungen waren, an den Todesmärschen durch kleine Dörfer und Städte teilzunehmen, erhielten diese Fragen ihre volle Bedeutung. Wie konnte es so weit kommen? Wie können wir dafür sorgen, dass dieser Ort der Erinnerung für immer ein solcher bleibt und nicht wieder zu einem Ort des Leidens wird? Wie können wir unsere Augen offen und aufmerksam gegenüber einer Welt halten, die uns einlullen will? Wie können wir gegen die Passivität ankämpfen?

Etwa 41.500 Häftlinge im Dachauer KZ-System hatten nicht das Glück, die Schrecken der Nazis zu überleben. Heute, an diesem Mahnmal, das den Opfern der Todesmärsche gewidmet ist, erinnern wir uns an ihr Leid, aber auch an ihren Mut. Wie kann ein Mensch dazu kommen, einen anderen Menschen nicht mehr als Mensch, sondern als wertlose Sache zu betrachten? Das sind entscheidende Fragen.

Als Französin bin ich stolz darauf, auch in einem anderen Land der Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken. Das ist sogar noch bedeutsamer. Heute, am 4. Mai 2024, kann ich in Deutschland meine Meinung frei äußern. Diese Freiheit wäre in unserer dunklen Vergangenheit, als unsere beiden Länder im Konflikt standen, undenkbar gewesen. Doch unsere Vereinigung heute fördert unsere gemeinsame Stärke. Dank dieser Vereinigung kann ich als europäische Freiwillige auf meine Weise dazu beitragen, indem ich heute gemeinsam mit Ihnen aller Opfer des Nationalsozialismus gedenke.

IMG 1391

Ich möchte einen Teil meiner persönlichen Geschichte mit Ihnen teilen, die mich heute hierher geführt hat. Meine Großmutter mütterlicherseits, die stets von Neugier und Offenheit geprägt war, hat mich mein ganzes Leben lang ermutigt. Ihr ist es zu verdanken, dass ich ein tiefes Interesse an Deutschland entwickelt habe. Ihr Blick über die Stereotypen ihrer Zeit hinaus hat mich dazu inspiriert, die Komplexität der Welt zu erforschen und zu verstehen. Mein Vorfahre, der 1815 geboren wurde, war Deutscher, was diese Verbindung zweifellos noch verstärkt hat. Heute engagiere ich mich als Europäische Freiwillige in Dachau und empfinde eine tiefe Dankbarkeit gegenüber meiner Großmutter, die mir diese Offenheit vermittelt hat. Meine Großmutter hat mir schon in jungen Jahren vermittelt, dass nicht alle Deutschen Nazis waren, genauso wie nicht alle Franzosen Widerstandskämpfer waren. Die Welt ist viel komplexer als das.

Heute möchte ich mein Licht, meine Liebe und mein Wohlwollen allen ehemaligen Häftlingen in Dachau, allen, die auf den Todesmärschen umgekommen sind, sowie ihren Familien bringen. Wie der Dachau-Überlebende Max Mannheimer sagte: "Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschehen ist, aber ihr seid verantwortlich dafür, es nie wieder geschehen zu lassen." Nie wieder galt gestern. Nie wieder gilt heute, aber vor allem: Nie wieder gilt morgen.

 

IMG 1322

 

 facebookTRANSP